Der Hochzeitsturm zu Plüderhausen
Brauch und Gebrauch
Uwe Schröder
Seit Mitte der 1990er Jahre pflanzen Brautpaare, die sich auf dem Plüderhausener Rathaus das Ja-Wort gegeben haben, auf einer sog. „Hochzeitswiese“ einen Obstbaum. Zur Auswahl stehen Apfel-, Kirsch-, Birn- oder Zwetschgenbaum.
Was als „alter Brauch“ von der Gemeinde wiederbelebt wurde, dient dem Hegen und Pflegen der Kulturlandschaft, den Streuobstwiesen des Remstals. Dem Brauch ging ein drastischer Einschnitt in die Lebenswirklichkeit voraus. Nach dem Dreißigjährigen Krieg bestimmten Verordnungen und Verpflichtungen wechselnder Landesväter – „im Rahmen der allgemeinen Bestrebung zur Hebung der Landeskultur“ – den Anfang: Heiratswillige Bauern und Bewerber um das Bürgerrecht wurden verpflichtet, Obstbäume an Straßen oder auf Allmenden zu pflanzen, Kommunen und private Grundeigentümer waren angehalten, Obstbäume beiderseits von Straßen und Wegen einzusetzen, Baumfrevlern drohten drakonische Strafen.
Identität, Kultur und Gedächtnis sind der Landschaft des Remstals eingeschrieben. Längst schon – über die Zeitläufte hinweg – ist aus der Not das Symbol, aus der Pflicht die Kür geworden: Einmal im Jahr, an einem Samstag im Herbst oder auch im Frühjahr, findet die „Pflanzaktion“ der Eheleute statt.
Das Anordnen und Errichten von Räumen an Orten ist Aufgabe der Architektur. Der Hochzeitsturm markiert einen Ort und stiftet dem Brauch einen Raum. An den Höhenzügen der Tallandschaft des Remstals oberhalb von Plüderhausen steht der Turm inmitten einer Streuobstwiese, die als „Hochzeitswiese“ ausgezeichnet ist.
Der Weg führt unter den Kronen der Obstbäume kreuz und quer über die Wiese zum Turm. Von oberhalb nähern sie sich dem weiß engobierten Backsteinturm, der hangaufwärts zwei schmale, nebeneinanderliegende Öffnungen ausweist. Über Stufen in den Schwellen treten die Beiden gemeinsam und zugleich, aber durch die beiden Öffnungen getrennt voneinander, in das Innere hinein. Im Inneren, im Turmhaus, verliert der Backstein seine weiße Engobe und zeigt den roten Scherben vor. Für einen Moment verweilen die Beiden im Haus des Turmes; vor ihnen weitet sich der Blick im Rahmen der großen Bogenöffnung gegen Westen; am fernen Horizont über dem Tal schimmert die große Stadt, auf der die Sonne ruht; noch darunter im Tal die kleine Stadt mit den verdrehten schwarzen Dächern, aus der sie kommen, in der sie wohnen; für einen Augenblick wenden sich die Beiden einander zu, des gegebenen Versprechens sich vergewissernd; eine Glücksmünze fällt durch den dunklen Schlitz im rot gepflasterten Boden; Hand in Hand, Arm in Arm, schreiten die Beiden gemeinsam und zugleich voran über die tiefe Schwelle des großen Bogens, dem Blick nachgehend die Stufen herab; in beiden Nischen der tiefen Laibungen nach den Spaten greifend, führt der Weg unter den Kronen der Obstbäume kreuz und quer über die Wiese zu der auserkorenen Stelle ihres Baumes.
Eine ausführliche Besprechung des ganzen Projektes findet sich unter: 16 Stationen. Wanderungen im Remstal. Ein architektonisches Reisetagebuch von Andreas Denk
PDF_Bauwelt 12/2017
PDF_Gmünder Tagespost 25/12/2017
PDF_Stuttgarter Zeitung 2. August 2018
Projekt: Hochzeitsturm
Anmerkung/en: [Projekt: Entwurf, Modell, Ausführung]
Ort: Plüderhausen
Jahr: 2017 - 2019